Elfriede Jelinek

Der vollendete Unvollendete
oder
Geht da endlich was weiter?
(zur Erinnerung an Wilhelm Zobl)

Wilhelm Zobl ist lange mein bester Freund gewesen, bis er, noch jung, gestorben ist. Junge tote Künstler umgibt immer eine Aura des Tragischen, auch Geheimnisvollen, das berühmte „Unvollendete“. Hannah Arendt spricht, im Zusammenhang mit dem Tod Hermann Brochs, von dessen Unglauben an die Plötzlichkeit des Todes, während sie die Plötzlichkeit seines Tot-seins befürchtet hatte. Broch hatte gewußt, daß er sterben würde, aber doch nicht so plötzlich! Arendt hat mit sich gehadert, weil sie ihm, der ein Freund war, „das Bißchen Freundschaft und Hören und Nähe“ entzogen hatte, auf die er doch ein Recht gehabt hätte. Auch Willi Zobl hat, nach zwei schweren Gehirnoperationen, geahnt, daß er sterben würde. Aber doch nicht so plötzlich! Doch es ist immer plötzlich, auch wenn es unter dem Pomp von Ärzten und deren Helfern stattfindet, als sollte das Weiß der Klinik den Patienten noch einmal zum Strahlen bringen für seinen letzten Auftritt.

Erlebt hat Zobl jedenfalls die Uraufführung seiner Jura Soyfer-Oper „Der Weltuntergang“. Nach seinem Tod ist dann das meiste von ihm langsam erloschen. Die Strahlkraft des jung verstorbenen Künstlergenies ist ihm nicht gegönnt gewesen. Wie soll man ein Strahlen einmahnen (von dem ich mich ja auch noch im Theater an der Wien, bei der Uraufführung der Oper, überzeugen konnte), wie soll man ein Verlöschen aufhalten? Wie soll ich persönlich es seit so vielen Jahren aushalten können, daß nichts oder fast nichts von diesem Komponisten aufgeführt werden kann, der die Tradition Hanns Eislers fortgeführt hat, eine Tradition, die ohnedies immer mehr auszudünnen scheint, aus den verschiedensten Gründen. Solche Gründe liegen ja überall herum, genau wie die Gründe, die Welt zu verändern, keiner baut auf ihnen, weil sich offenbar die Meinung durchgesetzt zu haben scheint, daß man nicht alles verbauen dürfe, damit die Umwelt atmen kann oder warum auch immer. Die Umwelt atmet auf. Den Weg eines künstlerischen Werks, den kann man verstellen, verbarrikadieren. Die Ausgänge werden verstopft, es ist ja kein Tier mehr da, das man aus dem Bau treiben könnte, denn ein zeitgenössisches Werk funktioniert offenbar nur dann, wenn man seinen Urheber als Person herumzeigen kann. In diesem Fall kein Urheber mehr vorhanden für Interviews in Funk und Fernsehen. Nichts Vorzeigbares. Ich frage mich schon lange, wie das sein kann, daß das Werk Wilhelm Zobls dermaßen von der Bild- und Tonfläche verschwunden ist. Politisch scheint das Fortleben dieser Arbeiten sowieso nie wirklich erwünscht gewesen zu sein. Die linke Tradition in der Musik scheint mehr oder weniger an einer Art Prellbock zerschellt. Zuviele Züge sind abgefahren und haben im Nirgendwo gehalten. Die Passagiere sind verschwunden. Fazit ist, daß sich kaum etwas von Wilhelm Zobls Werk dauerhaft den Weg auf die Konzert- und Opernbühnen bahnen konnte, obwohl sich doch etliche, zum Beispiel H.K. Gruber oder der Dirigent Peter Keuschnig (der auch die Uraufführung des Weltuntergangs, der bei Soyfer und Zobl ja bekanntlich nicht stattfindet, dirigiert hat) dafür eingesetzt haben. Ein so lebendiges Werk und so tot! Aber das kann man von allem und allen sagen, die einmal lebendig waren. Aber nicht von allen Werken. Viele leben nach Jahrhunderten noch, es geht ihnen gut. Ich kann es kaum aushalten, daß das mit dem Werk Zobls nicht so sein soll.

Ich möchte unbedingt, daß wenigstens die Oper „Der Weltuntergang“ wieder aufgeführt wird. Ich möchte sie den Opernhäusern aus den Eingeweiden herausreißen. Die wissen ja alle, daß es diese Oper gibt. Warum tun sie dann nichts? Es wäre ihre Pflicht, das behaupte ich. Ich behaupte auch, es kann nicht, es darf nicht sein, daß sich Wilhelm Zobl als Komponist heute nicht mehr behaupten können sollte. Hannah Arendt schreibt weiter zum Tod Brochs, daß dessen Faden der Imagination, den er in die Wirklichkeit hineingesponnen habe, ohne sein Zutun und Wollen zur Wirklichkeit, zu einer Art Welt geworden sei, zu einem Labyrinth, das Broch Atlas-gleich auf seinen Schultern trug, bis er unter ihm zusammenbrach. Wir werden daran erinnert, in welchen Zeiten der Emigrant Broch geschrieben hat. Sie klopfen auch jetzt wieder bei uns an, aber diese Höflichkeit des Sich-Ankündigens wird nicht ewig dauern. Einmal werden sie unangekündigt kommen, fürchte ich. Und die Türsteher, an denen so lang niemand vorbeigekommen ist, werden in alle Richtungen davonfliegen.

Es ist vieles zusammengebrochen, woran Wilhelm Zobl noch geglaubt, für das er geschrieben hat, oder soll man sagen: um das er geschrieben hat? Aber es ist ja nichts zu erreichen, wenn man es erstickt, bevor es noch richtig atmen konnte, obwohl der Künstler um das meiste und das mindeste, diesen Atem, um einfach nur weiterleben zu können, gerungen hat. Wen kümmerts. Jetzt sind andere am Zug und wollen endlich einsteigen. Dafür müssen andre aussteigen und Platz machen. Wenn sich keiner wenigstens um die einzelnen Hauptwerke kümmert, dann wird diese musikalische Tradition aufs äußerste gefährdet sein. Und eine Tür wird für etwas anderes geöffnet werden, die derzeit noch mühsam zugehalten werden kann.

© Elfriede Jelinek