Nr. 03/2000

Von Vineta nach Jumne.

Zu Erich Frieds Hörspielfassungen von Jura Soyfers Vineta

Jürgen Doll

 

1.

Jura Soyfers Werk war vielleicht nie so lebendig und wurde so sehr gepflegt wie im antifaschistischen österreichischen Exil in England, dem Erich Fried angehörte. In den Publikationen des Austrian Centre bzw. der Jugendorganisation Young Austria wurden Gedichte von Soyfer und Auszüge aus seinem Romanfragment So starb eine Partei publiziert, in dem mit dem Austrian Centre verbundenen Exiltheater Das Laterndl seine Stücke aufgeführt. Bereits im November 1939 war in der Zeitschrift der Jugendorganisation das "Dachaulied" abgedruckt worden, im Februar 1941 folgten Lieder aus Astoria, im Februar 1944 - zum Gedenken an den Februaraufstand - ein Kapitel aus So starb eine Partei1. In die von Young Austria 1942 herausgegebene Anthologie Zwischen gestern und morgen. Neue österreichische Gedichte wurden, übrigens im Anschluß an einige Gedichte von Fried, fünf Soyfer-Gedichte aufgenommen. "Das Lied von der Erde" schließlich eröffnete die 1943 von Herbert Steiner und Erich Fried besorgte Sammlung Mut. Gedichte junger Österreicher, die auch zwölf Exilgedichte von Fried enthält.2

Doch nicht nur der Lyriker, auch der Theaterautor Soyfer war dem jungen Fried innigst vertraut. Beim Laterndl wirkten mehrere von Soyfers Freunden und Kollegen aus der Wiener Kleinkunstszene wie Rudolf Spitz, Martin Miller und Peter Preses mit. Sie ließen es sich angelegen sein, Soyfers Stücke auch im Exil aufzuführen. Im März 1939 wurde im Laterndl unter Leitung Martin Millers und unter Mitwirkung von Preses, Jaro Klüger und Marianne Walla Der Lechner Edi schaut ins Paradies als Mittelstück des Programms Von Adam bis Adolf mit Erfolg gespielt3, im Jänner 1941 wurden unter dem Titel "Kleines Welttheater" erneut Auszüge ausLechner Edi und ausVineta sowie der Einakter Der treueste Bürger Bagdads zur Aufführung gebracht.4 Im Austrian Centre folgten noch Aufführungen von Vineta im Mai 1945 und von Weltuntergang im Juni 1946. Erich Fried leitete kurzfristig eine Spielgruppe beim Laterndl und konnte dort mehrere seiner Revuen auf die Bühne bringen.5 Anders als in seiner Lyrik, in der Soyfer-Reminiszenzen nicht ohne weiteres auszumachen sind, ist in seinen Stücken dessen Einfluß nicht zu übersehen, am deutlichsten in der 1941 aufgeführten Szene Ring-Rund, die sich eng an den Lechner Edi anlehnt.6 Tritt in Soyfers Mittelstück der Motor Edi auf, so in Frieds Szene der ebenso vermenschlichte Pflasterstein Granit-Schani, der den Helden Ferdl ebenfalls auf eine Art Zeitreise in die Vergangenheit führt. Dem Protokoll eines Referats zur Frage der österreichischen Nationalliteratur, das Fried 1942 auf einer Veranstaltung von Young Austria gehalten hat, können wir entnehmen, daß er auch Broadway Melody 1492 kannte, in dem er eine allegorisch verkleidete Aufforderung zur Verteidigung Österreichs sah.7 Wie sehr jedoch Soyfer in den Londoner Exilkreisen als Dichter geschätzt wurde, geht aus dem Gedenkartikel von Albert Fuchs hervor, in dem dieser schreibt, es sei nicht gewagt zu behaupten, "daß er [Soyfer]der große sozialistische Dichter Österreichs geworden wäre. Nichts fehlte ihm: weder tragische Kraft, noch philosophischer Tiefblick, noch Humor - nur ein paar Lebensjahre."8

 

2.

Hinweise im Nachlaß Frieds lassen vermuten, daß seine Beschäftigung mit Vineta ebenfalls bis in seine Londoner Exilzeit zurückreicht. Zwischen 1942 und 1945 hatte er sich an einer englischen Übersetzung von Vineta versucht, die den Titel "Atlantis" tragen sollte.9 Spätestes ab den frühen sechziger Jahren wandte er sich diesem Stück wieder zu und bearbeitete es bis in die achtziger Jahre hinein wiederholt für Hörspiel und Theater. Es liegen mehrere Hörspiel-Fassungen vor, die sich nur unwesentlich voneinander unterscheiden. Die vermutlich erste Fassung (1960? - 1964?) trägt den Titel Jura Soyfer: Vineta. Hörspiel, bearbeitet von Erich Fried; die ausgefeilteste, die er im November 1967 unter anderem dem Süddeutschen Rundfunk angeboten hatte, versah Fried mit einem Titel, in dem er seinen Namen gleichberechtigt neben jenen Soyfers setzte: Johnny in Vineta. Hörspiel von Jura Soyfer und Erich Fried.10 Unter dem Titel Johnny in Jumne liegen diverse Theaterfassungen vor, für die er im Februar 1968 vom Globus Verlag die Bearbeitungsrechte erhalten hatte.11 Eine erste Fassung bot er Anfang März 1968 ohne Erfolg Otto Tausig, der damals an einem Kölner Theater wirkte, zur Aufführung an, eine zweite, erweiterte, unter dem Titel Johnny will leben oder Johnny in Jumne ist mit 29. Mai 1973 datiert.12 Da Fried die Theaterfassung direkt auf die Hörspielfassungen aufgebaut hat, werde ich im Anschluß an die Hörspielfassung Johnny in Vineta auch kurz die inhaltlich stärker veränderte Theaterbearbeitung Johnny in Jumne behandeln.

Es ist fraglich, ob es sich lohnt, sich mit dem HörspielJohnny in Vineta (in seinen verschiedenen Fassungen) genauer zu beschäftigen, da sich Fried, von den unerläßlichen Anpassungen (Ortsangaben, Einführung neuer Personen) abgesehen, über eine spezifische Hörspieldramaturgie offenbar kaum Gedanken gemacht hat. Zwar ist das Spiel nicht mehr in Bilder unterteilt, der Handlungsverlauf entspricht jedoch vom ersten bis zum letzten Bild getreu dem Original. Die Ankündigung von Ortsveränderungen und neu auftretenden Personen überträgt Fried nicht einem Sprecher, sondern verlegt sie in den Dialog, was zuweilen etwas gezwungen wirkt. So beginnt das 2. Bild mit Johnnys Aufruf: "Wo bin ich? An Land! Auf einem Platz, mitten in einer Stadt. Also ..." (S. 713). Ähnlich zu Beginn des 3. Bildes: "Johnny: [...] Na also, wenigstens den Hafen hätte ich gefunden. Mein Seemannsinstinkt! - Hm? Zentral gelegen, gleich hinter dem Domplatz. Aber menschenleer. - Ach nein! Dort eine Frau bei der Anlegestelle!" (S. 10). Prägnanter, wenn auch kaum weniger gezwungen, erfolgt die Lokalisierung des 4. und des 5. Bildes: "Johnny: Bitte, das ist doch wohl das Stadttor? Schreiber: Jawohl." bzw.: "Johnny: Also ihr zwei, ihr sitzt hier vor dem Dom, weil ihr Bettler seid? Bettler: Ja, wir sitzen hier vor dem Dom ... Bettlerin: ... weil wir Bettler sind." (S. 21) Am wenigsten geglückt ist vielleicht die Einführung des Gefängnis-Bildes im Dialog zwischen Johnny und dem Schreiber: "Johnny: Du wirst schon sehen. Ihr alle! - Hier, gleich neben dem Stadtturm werdet ihr es sehen! Schreiber: Hier gleich neben meinem Stadtturm befindet sich nur das Gefängnis. Johnny: Jawohl. Ich gehe ins Gefängnis" (S. 40). Auf ähnliche Weise wird auf den Auftritt neuer Personen innerhalb eines Bildes übergeleitet, z. B. auf den der beiden Senatoren. Johnny, der sich mit der Dame am Hafen unterhält, ruft "entsetzt" aus: "Wer kommt denn da schon wieder? - (Man hört Schritte und Männerstimmen)", worauf die Dame beruhigend antworten kann: "Keine Angst, mein Herr. [...] - Das sind zwei wohlangesehene Kaufleute. (Schelmisch) Wir nennen sie immer den Fröhlichen Senator und den Mürrischen Senator." (S. 12). Ansonsten werden logischerweise Szenenanweisungen, die einen Zuschauer erfordern, geändert. "Es wird finster", "sieht sich erstaunt um", "greift sich an den Kopf" oder "sieht ihn verständnislos an" fallen weg, manchmal auch muß die Person erklären, was sie gerade tut. Statt der Bühnenanweisung "Erhebt sich" (Vineta, S. 18114) heißt es beispielsweise im Hörspiel: "Ich steh mal auf" (S. 7). Relativ sparsam verwendet Fried zusätzliche Geräusche zur Ortsbestimmung. Als die Wirtin im 1. Bild das Lokal verläßt, fällt eine Tür zu. Johnnys Erzählung von seinem Unfall wird von Möwengekreisch und Plätschern, im Moment des Untertauchens vom Glucksen der Luftblasen begleitet. Die Glocken läuten häufiger als im Original, um Szenenwechsel anzuzeigen, in der Verlobungsszene wird ein Hochzeitsmarsch gespielt, am Ende der Kriegsszene hören wir ein Trompetensignal. Um den Übergang zur Schlußszene in der Kneipe zu markieren, wiederum "Plätschern, Glucksen von Luftblasen, Glockenläuten, dazwischen Stimmen" (S. 45). Die einzige nennenswerte szenische Veränderung ist die Auflösung eines Teils von Johnnys Erzählung in einen Dialog zwischen diesem und dem Schiffsjungen: "Schiffsjunge (schreit): Johnny! Johnny! Johnny: Was ist los? Schiffsjunge: Tauch nicht Johnny! - Du kommst nicht wieder rauf! Johnny: Warum denn nicht? Schiffsjunge: Die Glocken! Ich habe die Glocken läuten hören! usw." (S. 5-6). Doch gewinnt Soyfers Text durch diese Änderung keineswegs an Lebendigkeit, ja Johnnys Schilderung im Ursprungstext ist eindeutig spannender und farbiger als der Dialog in der Hörspielfassung.

Was neben diesen mehr oder weniger geglückten, technisch bedingten Änderungen am meisten auffällt, ist die sprachliche Bearbeitung von Soyfers Text. Zeichnet sich schon Soyfers Sprache in Vineta, mit Ausnahme der Kneipenszenen, durch ein relativ jargonfreies Normdeutsch aus, so wurde sie durch Fried, einschließlich Johnnys Diktion, völlig geglättet, in ein zuweilen kraftloses Idiom überführt. So fügt Fried bei den Verben systematisch das End -e hinzu, also "ich könnte" statt "ich könnt'", "ich sinke" statt "ich sink", "ich rüttle" statt "ich rüttl", "ich meine" statt "ich mein'", "ich schnappe" statt "ich schnapp'", "ich müßte" statt "ich müßt'", und so den gesamten Text hindurch. Auch umgangssprachliche Verkürzungen werden sozusagen "verbessert", "für 'n alten Mann" wird zu "für einen alten Mann", "gibt's" zu "gibt es" usw. "Dich, Kathrinchen, könnt ich auf den Knie schaukeln" wird demgemäß grammatikalisch korrekt zu "auf den Knien schaukeln" (S. 2). Auch vermeintliche syntaktische Unebenheiten werden ausgeglichen: das wienerische "wie" im Komparativvergleich wird durchgehend durch ein korrektes "als" ersetzt. Auch Wortstellungslizenzen der Umgangssprache werden gnadenlos ausgemerzt. Heißt es bei Soyfer: "Krieg ja nichts anderes zu hören, den ganzen Tag" (S. 178), so bei Fried: "Krieg ja den ganzen Tag nichts anderes zu hören" (S. 2). Frieds "Übersetzungen" in "richtiges" Deutsch nehmen dem Text nicht selten seine Unmittelbarkeit, Lebendigkeit und Farbigkeit. Wenn Fried einen versoffenen Matrosen ein so makelloses Deutsch sprechen läßt, verwundert es nicht, daß dieser nicht mehr einen Druck im "Schädel", sondern im "Kopf" verspürt, und zwar "einen ganz scheußlichen Druck" und nicht "so einen scheußlichen Druck (S. 6), wobei man sich fragen kann, weshalb "Schädel" Fried sprachhygienisch unstatthaft zu sein scheint. Auch das Vokabular wird systematisch angepaßt: statt "na, dann" steht "na, in diesem Falle", statt "Danke, Sie sind also plemplem" "Danke, das ist also ein klarer Fall"(beide S. 9), statt "ich will zu meinem Mann fahren" die offenbar vornehmere Form: "ich will hinreisen" ; dementsprechend korrigierte Fried noch im Typoskript "Nochmal probieren" in "Nochmal versuchen" (S. 6). Und steht bei Soyfer: "Sie gestatten? Mir ist ein wenig schwummelig" (S. 184), so bei Fried: "Sie gestatten, wenn ich auf der Bank ein wenig Platz nehme ... [diese Ergänzung dient allerdings auch der Hörerinformation] Mir ist etwas schwindelig". Auch warum Fried statt "ein Spaziergang in die Umgebung der Stadt" den unschönen stadtplanerischen Satz:"ein Spaziergang durch die unverbauten Grünflächen der Stadt" setzt, ist nicht unmittelbar einsichtig. Es lohnt nicht, alle grammatischen und syntaktischen Veränderungen aufzulisten, es sei nur festgehalten, daß Fried dabei mit erstaunlicher Systematik vorgegangen ist.

Eng mit dieser Anpassung an die Normen der Sprache hängt deren Entösterreicherung bzw. Verdeutschung zusammen. "Jetzt" wird systematisch durch "nun" ersetzt ("Nun halt aber endlich die Klappe, Johnny", S. 2 statt "Jetzt halt schon die Klappe, Jonny"), "ja" durch "doch" ("Du hast doch so viel erlebt", S. 4), "dank schön" durch "besten Dank", "sag" durch "sag doch", "nein" durch "nee", "freilich" durch "klar": "Klar, Johnny, hast ja recht" (S. 178). Ebenso systematisch wird das Füllsel "mal" eingefügt, z. B.: "Als dein unbekannter Vater noch nicht mal annähernd auf der Welt war, dieser Lump", statt: "Wie dein unbekannter Vater noch nicht annähernd auf der Welt war, dieser Gauner" (S. 2), oder Apostrophen der Art "hör mal, Junge" (S. 6). Statt "Pfui" heißt es nun "Pfui, Deibel", statt "sowieso" "ohnehin", statt "extra" "alleine". Steht bei Soyfer: "Ich mein ja, jeder von uns extra", so bei Fried: "Ich meine ja, ein jedes von uns alleine" (S. 2). Es seien noch einige weitere Beispiele für die sehr zahlreichen "Eindeutschungen" angeführt, wobei man sich manchmal die Frage stellt, inwieweit Frieds Änderungen wirklich "deutscher" klingen - sie klingen manchmal nur "feiner". Warum etwa schreibt Fried: "und ganz umsonst und unentgeltlich" statt "und ganz gratis und umsonst" (S. 5), wobei "unentgeltlich" ja nun kaum der Alltagssprache, zumal eines Matrosen, zugehört? Im folgenden Beispiel verbinden sich "Verdeutschung" und grammatikalische Korrektion. Sagt Johnny bei Soyfer: "Ein Schiffsjunge kommt gelaufen, aber wie! Ganz ohne Puste, als ob ihm der Teufel im Genick sitzt", so besinnt er sich bei Fried seines Deutschunterrichts und sagt: "Ganz ohne Puste, als ob ihm der Teufel im Nacken säße." (S. 5) Bietet der Senator bei Soyfer zehn Waggon Weizen "um zwanzig-zwanzig", so bei Fried "zu zwanzig-zwanzig", ist es bei Soyfer "halb neun" und "drei viertel vier", so bei Fried "acht Uhr dreißig" und "acht Uhr fünfundvierzig". Die Senatoren sagen auch nicht mehr "prima, prima", sondern "beste Qualität" (S. 12-13). Statt "Wohin?" heißt es nun "Bitte um genaue Angabe des Reiseziels", statt "wozu?" "zu welchem Zweck?" (S. 19) und der Leser fragt sich: warum? Wenn bei Fried der Stadtwächter und der Schreiber mit "jawohl" statt mit "ja" antworten, so soll das wahrscheinlich deren administrativ-bürokratischen Status unterstreichen, doch verstärkt diese Änderung auch die durchgehend norddeutsche Färbung des Textes. An anderer Stelle hingegen glättet Fried den von Soyfer veräppelten typischen Ärmelschonerstil. Sagt der Schreiber bei Soyfer: "Ich habe nur die Obliegenheit, Ihnen dieselben [die Papiere] abzuverlangen" (S. 186), so bei Fried: "Ich habe Ihnen die Papiere nur abzuverlangen" (S. 18). Ähnlich, wenn Fried "obige Antworten" durch "die Antworten, die Sie mir eben gegeben haben" (S. 21) ersetzt. Auch mehr oder weniger österreichspezifische Wörter oder Wendungen werden ausgeschieden. Aus "Kompagnon" wird "Teilhaber", aus "momentan" "augenblicklich", aus "respektive" "beziehungsweise", aus "Schmutzian" das viel blassere "Knauser" (S. 47), aus "Ecco" wird das sehr deutsche "tja" (S. 39) und aus "ergo" das banale "also" (S. 30). Sagt die Bettlerin bei Soyfer: "Du bist kein Hiesiger", so bei Fried: "Du bist nicht von hier" (S. 23). Indem dieser "Im ersten Stock?" in Soyfers Text in "im ersten Stockwerk" umwandelt, verwischt er die deutliche Nestroy-Anspielung - die wohl auch unpassend wäre in einem Text, in dem Sätze vorkommen wie: "Ach Quatsch, ich träum ja wohl!?" (S. 6)

Das Zielpublikum des im Londoner Exil verbliebenen Autors war bis in die achtziger Jahre praktisch ausschließlich die bundesdeutsche Leserschaft, und nach der Korrespondenz zu schließen, hat Fried das Hörspiel auch nur Sendern in der Bundesrepublik angeboten. Er situierte sich und sein Werk fast ausschließlich in Bezug auf die literarische Öffentlichkeit der Bundesrepublik, was auch die von ihm gewählte Dichtungssprache einschloß. Verkehrte er während des Krieges noch mit österreichischen Emigranten und hatte sich in Kleinkunststücken sogar im Wiener Dialekt versucht, so paßte er sich in der Folge eng der bundesdeutschen Sprechweise an. "Und manchmal habe ich auch die Diktion geändert", schreibt er 1968 anläßlich einer Theaterbearbeitung von Vineta an Otto Tausig, "weil mir vielleicht die Sprache der Deutschen doch etwas vertrauter ist." Trotz allem - in einem in einer norddeutschen Hafenstadt spielenden Hörspiel ist eine betont norddeutsche Diktion alles andere als deplaziert, und auch Soyfer hat sich ja in Vineta, im Gegensatz zu seinen anderen Stücken, alles typisch Wienerischen enthalten. Das Problem liegt vielmehr in der Umwandlung des Soyferschen Dialogs in ein farbloses, blutloses Normdeutsch, woran auch der Prozeß der "Entösterreicherung" teilhat. Es ist erstaunlich, daß der phantasievolle Übersetzer von Dylan Thomas' Under milkwood oder von Synges The Tinker's wedding, ganz zu schweigen vom späteren Shakespeare-Übersetzer, die Besonderheiten und Qualitäten von Soyfers Theatersprache derart verkannt hat. Insgesamt gesehen kann man Frieds vermeintliche Verbesserungen nur als Verschlechterungen ansehen bzw., mit einem häßlichen, aber typisch bundesdeutschen Wort ausgedrückt, als "Verschlimmbesserungen".

Dies gilt in gleichem Sinne auch für die Erweiterungen des Soyferschen Textes. Frieds Hörspiel ist etwa doppelt so lang wie Soyfers Stück, ohne daß inhaltlich Wesentliches beigefügt worden wäre. Sehr häufig handelt es sich um redundante Wiederholungen, manchmal hat man den Eindruck, Fried habe dem Hörer zuwenig zugetraut. Diese Erweiterungen gehen so gut wie immer mit einem großen Verlust an sprachlicher Genauigkeit und Intensität einher. Auch hier sollen einige Beispiele für sich selber sprechen. Ruft Johnny bei Soyfer aus: "Hurra! Er hat die Gottesgabe der Sprache!" (S. 182), so bei Fried: "Ah! Er hat etwas gesagt! Endlich! Sie haben doch etwas gesagt, Herr Wachtmeister?! Nicht? Sie haben doch eben gesagt 'Gehen Sie nicht weiter’? Was? Hm? - Muß ich geträumt haben. Nochmal versuchen." (S. 7) Fast der gesamte Dialog, ja jede einzelne Replik wird auf ähnliche Weise ausgewälzt. Bei Soyfer: "Jonny: A - aber wenn's den Weizen gar nicht gibt? Fröhlicher Senator: Na, dann gibt's ihn eben nicht. Hahaha!" (S. 185). Bei Fried: "Johnny: Aber - aber, wenn die Herren nicht wissen, wo er wächst? Wenn es den Weizen vielleicht gar nicht gibt? Fröhlicher Senator: Köstlicher Gedanke! Na, dann gibt es ihn eben nicht. Hahaha!Was weiter?" (S. 14, Hervorh. von mir). Heißt es bei Soyfer: "Und du hast dich nach langem Ringen entschlossen, alle ehelichen Pflichten zu erfüllen, mein armes Kind?" (S. 189), so bei Fried umständlich, ja schwerfällig: "Und du hast dich nach langem Ringen entschlossen, ihn zum Gatten zu nehmen, mein armes Kind, und alle ehelichen Pflichten zu erfüllen, die sich aus diesem Schritt ergeben?" (S. 26). Ein weiteres Beispiel für das sachlich nicht notwendige Auswälzen einer Replik: Soyfer schreibt: "Jonny: Du weißt, daß ich morgen an die Front gehe. Bist du nicht traurig, daß ich in den Krieg muß? Frau: Gewiß doch nein, im Gegenteil! Jonny: Ich weiß, ich bin ein Held. Aber - Frau: Der Vineter ist unsterblich." (S.193). Derselbe Dialog bei Fried: "Johnny: Du weißt doch aber auch, daß ich morgen in den Krieg gehe, an die Front. Bist du nicht traurig, daß ich in den Krieg muß? Lilie: Gewiß doch nein! Im Gegenteil. Johnny: Ja, ja, ich weiß, ich bin ein Held. Aber gesetzt den Fall, ich sterbe in diesem ... Lilie (pathetisch): Der Vineter ist unsterblich!" (S. 35) Läßt Soyfer den Schreiber kurz und bündig fragen: "Resultat?" (S. 195), fürchtet Fried offensichtlich, der Hörer wäre mit dieser Kürze überfordert und schreibt: "Nach den Ergebnissen hab ich dich gefragt" (S. 39). Auf diese Art werden alle Dialoge in die Länge gezogen und dabei ausgeleiert, was beim Radiohörer, wäre dieses Hörspiel gesendet worden, wahrscheinlich Ungeduld und Langeweile ausgelöst hätte.15

Ich habe mich auch deshalb so lange bei den Fragen der Sprache aufgehalten, weil Fried nicht nur dramaturgisch praktisch nichts, sondern auch inhaltlich nur sehr wenig geändert hat. Er hat die Handlung vom 19. ins 20. Jahrhundert verlegt, vom "Juli achtzehnhundertsoundsoviel" (S. 180) in den "Juli Neunzehnhundertsoundsoviel" (S. 5), weshalb Johnny nun auch statt eines "halben Liters" einen "doppelten Whisky" bestellt (S. 2). Der Grund für diese zeitliche Verschiebung ist wohl in Frieds Bestreben zu suchen, noch direkter als Soyfer im Schicksal Johnnys das Schicksal des zeitgenössischen Menschen zu spiegeln. Dieses Schicksal heißt für Fried Entfremdung, und zwar in einem durchaus unpolitischen, dem existentialistischen Denken nahen Sinne. Fried hat das Hörspiel zu Beginn der sechziger Jahre, vor seiner Repolitisierungsphase geschrieben, aber wohl noch früher entworfen. Das Ertrunkensein wird zur Metapher der Entfremdung, das Ertrinken bedeutet das Hinübergleiten in den Zustand der Entfremdung. So sagt Johnny zur Wirtin, die vorgeblich gemeinsamen "Tage der Rosen" evozierend: "Eine lebendige Zeit war das damals. Nicht so ein Weitervegetieren." (S. 2). Und zu Kathrin: "Ich habe ein Leben hier wie ein Ertrunkener nach seinem Tod" (S. 3, Hervorh. von mir). Etwas weiter: "Und gelernt hab ich auch was dort unten, Mädchen: daß wir lebendig sein müssen. Das wird einem nämlich ganz besonders beim Ertrinken klar." (S. 4, Hervorh. von mir). Nicht nur Johnnys Leben in Vineta, sondern auch sein gegenwärtiges Leben ist entfremdet, die Vineta-Episode nur eine Metapher für sein und unser gegenwärtiges entfremdetes Dasein, so wie es Soyfers Kleinkunstkollege Rudolf Spitz (den Fried in London kannte) bereits in seiner Uraufführungskritik ausgedrückt hatte.16 Johnnys Kampf gegen Vineta ist ein Kampf gegen die Entfremdung, die als allumfassende Existenzform gesehen wird: "Ganz richtig", sagt Johnny zum Schreiber, "das Leben war ein Kampf. Das habe ich schon als Kind gelernt. - Der Existenzkampf, auch Lebenskampf genannt." (S. 20). Diese durchaus legitime Interpretation des Stückes als einer Parabel der umfassenden menschlichen Entfremdung verweist auf das absurde Theater der fünfziger Jahre. Ganz im Sinne dieser Stömung wird das in Soyfers Rahmenhandlung angesprochene didaktische Ziel zumindest teilweise zurückgenommen. Heißt es bei Soyfer: "und es läßt sich auch etwas lernen aus der Geschichte, Mädelchen" (S. 179), so wird bei Fried diese Verallgemeinerung ins Persönliche zurückverlegt: "und gelernt hab ich auch etwas dort unten, Mädchen" (S. 4, Hervorh. von mir). Diesem Interpretationsansatz entsprechend wird Soyfers Stück durch Fried vollständig entpolitisiert, das heißt, die an sich schon sparsamen politischen Anspielungen werden entweder beseitigt oder, wie die Verweise auf die Arbeitslosigkeit in der Bettler-Szene, ins Ontologische umgedeutet. Steht bei Soyfer: "Du weißt nicht, daß in Vineta niemand arbeitet. Die Reichen brauchen 's nicht, die Armen können 's nicht" (S. 187), so bei Fried: "Darum weißt du nicht, daß in Vineta niemand richtige Arbeit tut" (S. 23, Hervorh. von mir). Es handelt sich nicht um die Arbeit an sich, sondern um die Qualität der Arbeit, um nichtentfremdete Arbeit. Ebenso heißt es bei Fried: "Aber ich werde leben. Ich werde etwas schaffen. Punktum." (S. 25, Hervorh. von mir) im Gegensatz zu Soyfer: "Aber ich werde leben. Arbeiten. Punktum." (S. 188). Nicht mehr von "arbeiten", sondern von "etwas schaffen" ist die Rede, also wiederum davon, sinnvolle, nichtentfremdete Arbeit zu leisten. Die Bemerkung des Schreibers, außer ihm und den beiden Senatoren kenne niemand das Geheimnis Vinetas, ist bei Fried zurecht weggelassen. Nicht nur, weil er von einem alle umfassenden Zustand der Entfremdung ausgeht, sondern auch weil dadurch ein politisches Moment der Herrschaft und Manipulation in das Stück eingebracht wird. Auch das "Unausdenkliche", das einträfe, wenn die Wahrheit ans Licht käme, wird - da von Fried offenbar politisch aufgefaßt - banalisiert: "Wenn sich das erst herumspricht, Johnny, das wäre dann mit einem Schlag das Unausdenkliche ... Ach was, vielleicht sind das auch alles nicht die wahren Gründe. Was uns zum Reden bringt, oder zum Schweigen, das wissen wir alle doch nur in den seltensten Fällen. Und das ist vielleicht ganz gut so eingerichtet." (S. 31) Diesem Prozeß der Entpolitisierung fallen auch die höchstwahrscheinlich sowieso nicht von Soyfer stammende Intellektuellenschelte im 6. Bild von Vineta ("Auch ein toter Intellektueller bleibt, was er ist, nämlich ein Intellektueller") und besonders die direkten Anspielungen auf den kriegstreiberischen Faschismus im Epilog zum Opfer. Der klare Zeitbezug bei Soyfer: "Aber wenn einmal eine Sturzflut kommt, ein großer Krieg, eine große Barbarei, ob da nicht die ganze Welt zu Vineta wird?" (S.199) macht bei Fried einem etwas ratlosen Räsonnieren Platz: "Aber wenn mal was schiefgeht - ganz und gar schief - ... eine große Sturzflut, daß alle Deiche brechen - oder sonst was entzweigeht - ... aber das ... das ist nur so eine Klabauterphantasie von mir Mädchen" (S.47). Zwar endet das Hörspiel, wie bei Soyfer, mit einer Aufforderung zum gemeinsamen Handeln, doch bleibt die Gefahr seltsam unscharf: "Da müßten doch alle Mann an die Pumpen oder Deiche aufkaden und Dämme flicken, mit Sandsäcken, damit die Sturzflut nicht durchkommt oder sonst was entzweigeht und absackt." (S. 47 Frieds Stück beginnt und endet mit einem Lied, in dem, ebenfalls völlig unpolitisch - auf Johnnys gegenwärtigen Zustand bezogen - das Älterwerden thematisiert wird:

Immer wieder, doch wird man rasch älter,
und die Glieder werden langsam kälter.
Denn die Liebe - wie soll ich das sagen? -
geht ja leider nicht nur durch den Magen.
Darum halte dich lieber an den Suff,
auch hier - in diesem Puff!

 

3.

Den gegenteiligen Weg der - zuweilen unmittelbar zeitbezogenen - Politisierung ging Fried in seiner Bühnenbearbeitung Johnny will leben, oder Johnny in Jumne, die er 1968 verschiedenen Theatern angeboten hatte. Diesen legte er eine um die Rahmenhandlung gekürzte Fassung vor, ich jedoch werde mich im folgenden auf das vollständige, auf 1973 datierte Manuskript beziehen. Soyfer taufte "Vineta" in "Jumne" um, da er in der für ein bundesdeutsches Publikum bestimmten Bearbeitung jede Wien-Assoziation vermeiden wollte.17 Die Handlung spielt, historisch richtig, in einem Ostseehafen18, und zwar in der Gegenwart der 60er Jahre. Fried nimmt die Ortsangabe beim Wort, d. h. er beschreibt in seinem Stück bundesrepublikanische Zustände. Die Textgrundlage ist nicht Soyfers Vineta, sondern seine eigene Hörspielfassung dieses Stücks, die er den neuen Absichten entsprechend verändert und erweitert hat.

Bekanntlich hat sich Fried im Laufe der sechziger Jahre immer stärker politisiert bzw., wenn wir seine frühe Exilzeit miteinbeziehen, repolitisiert, eine Entwicklung, die in dem 1967 publizierten, sehr kontrovers aufgenommenen Band ... und Vietnam und ... ihren ersten dichterischen Höhepunkt fand. Er sympathisierte, ja identifizierte sich in jenen Jahren mit der außerparlamentarischen Opposition und speziell mit der Studentenbewegung, was auch in seiner Bearbeitung deutlich zum Ausdruck kommt. Um die Politisierung der Fabel zu rechtfertigten, bezieht er sich allerdings auf Soyfer selbst. In einem Entwurf eines versifizierten Prologs - der in der den Bühnen angebotenen Fassung die Rahmenhandlung ersetzen sollte -, interpretiert er Vineta als Warnung vor dem Faschismus und als Anklage der Menschen, die sich dieser Gefahr gegenüber indifferent verhalten haben. Soyfer (von dem er noch glaubte, er sei in Dachau gestorben) habe außerdem die Arbeitslosigkeit und andere Mißstände im Wien der dreißiger Jahre gegeißelt. Doch wirke das Übel, an das Soyfer gedacht habe, heute noch weiter und er habe das Stück bearbeitet, "um vor jenen Unheilskräften zu warnen/ die immer noch die halbe Menschheit umgarnen"19, wobei mit der "halben Menschheit" offenbar die kapitalistische Welt gemeint ist.

Dieser Deutung der Gegenwart entspricht die um vieles gewalttätigere und bedrohlichere Atmosphäre in Johnny in Jumne: in der Hafenkneipe agiert ein Rausschmeißer, die Wächter tragen Maschinenpistolen, wenn sie auch behaupten, nicht "ohne Schießbefehl zu schießen" (S. 16), der Gefängniswärter brüllt den Gefangenen an und fingert beständig an seiner Revolvertasche. Von Anfang an ist von Politik die Rede. Das Auftaktlied aus der Hörspielfassung wird politisiert, es handelt etwa von der "Verschaukelung der Sozialpartner" (S. 2), und selbst in seine erfundenen Seemannsgeschichten flicht Johnny Politisches ein: "Und wie ich den Fliegenden Holländer unter den Tisch getrunken habe, in Haiphong, im Golf von Tonking? Das waren noch goldene Zeiten, Mädchen, wie im Märchen: Da gabs nur die Pest dort und noch gar keine Amis mit ihren Ledernacken!" (S. 4). Einmal, trotz der bundesdeutschen Lokalisierung, scheint er an das Wien der Zwischenkriegszeit zu denken: "Und ich war noch kein Matrose damals, sondern einer, der sich überall umtun konnte. Weißt du: Damals gabs noch Arbeiterbildungsvereine, und wir wollten was lernen, um später einmal ... Na ja ; ist ja alles im Eimer." (S. 5) Solche, zuweilen etwas an den Haaren herbeigezogene Anspielungen durchziehen das ganze Stück. Sie beziehen sich auf die imperialistische Politik der USA und den Vietnamkrieg20, auf die Wasserstoffbombe21, auf den offiziellen politischen Diskurs und die politische Lage in der Bundesrepublik22, auf die Nazizeit und deren Verdrängung.23 Ansatzweise identifiziert Fried die Vergeßlichkeit der Vineter/Jumner mit der umfassenden Verdrängung der Nazizeit in der frühen Bundesrepublik, aber leider führt er diesen interessanten Ansatz nur ungenügend aus. Zwanzig Jahre später hat Robert Schindel diesen Gedanken - auf Wien bezogen - in seinem Vineta-Gedicht thematisiert.24

Fried deutet, wie er im Brief an Tausig ausführt25,Vineta weiterhin als Bild der allumfassenden Entfremdung, wobei jedoch der Entfremdungsbegriff nun ins Politische gewendet ist: er bedeutet, der damaligen, vor allem von Herbert Marcuse theoretisierten Auffassung nach die völlige Integration aller, auch und besonders der Arbeiter, in die "formierte Gesellschaft". In seinem 1968 publizierten Aufsatz "Intellektuelle und Sozialismus" stellt Fried eine Verbindung her zwischen dem Gedächtnisschwund der Deutschen und der die Arbeiter einschließenden Entfremdung. Sich auf eine Äußerung des Bundespräsidenten Heinrich Lübke beziehend, er glaube nicht, Baupläne für ein KZ unterzeichnet zu haben, schreibt Fried: "Die Möglichkeit einer solchen Äußerung sagt über das Maß der Entfremdung in der betreffenden Gesellschaft mehr aus als die wütende politische Anklage durch ihre Kritiker. Kein Wunder, daß in einer Gesellschaft, in der - nicht ohne guten Grund - das Vergessen und Verdrängen so geübt wird, auch Traditionen der Arbeiter zum großen Teil vergessen und verdrängt wurden. [...] Bei diesem 'Gedächtnisschwund' handelt es sich in Wirklichkeit teils um Verdrängungen, teils um die Nachwirkungen des Traumas, das der Hitlerfaschismus dem Selbstgefühl der deutschen Arbeiter zufügte."26 In seiner Bearbeitung fügt Fried als 5. Bild eine Szene hinzu, in der eine Arbeiterdemonstration stattfindet. Die demonstrierenden Arbeiter warten natürlich brav auf das Grünlicht, bevor sie die Kreuzung überqueren (S. 20), und die gesamte Demonstration entpuppt sich als Unterstützungsveranstaltung für das Regime (inspiriert von den Berliner Arbeiterdemonstrationen zur Unterstützung der USA). So singen die Demonstranten:

Hier wird im Namen des Gesetzes regiert;
Hier wird im Rahmen des Gesetzes demonstriert,
Hier wird im Rahmen des Vergessens vermerkt,
Wie unsre Freiheit Jumne stärkt!
Wir hier am Kreuzweg, wir stehen bereit:
Wir bringen Fortschritt zur rechten Zeit. (S. 21)

Zufrieden kann der Fröhliche Senator dem Mürrischen Senator, der sich über die Demonstranten erregt, antworten: "Aber, mein Bester, regen Sie sich nicht auf. Die treten doch nur auf dem Fleck. Das kann man ihnen doch gönnen." (S. 22) Auf Johnnys Aufforderung, wirklich etwas zu unternehmen, sich nicht vereinnahmen zu lassen, reagieren die Arbeiterdemonstranten, so wie damals die Berliner Arbeiter auf die studentischen Demonstranten, nämlich gereizt und aggressiv: "Wir demonstrieren nach den Regeln/ Und diskutieren nicht mit Flegeln." (S. 25) Der Stadtschreiber tritt in dieser Szene als ein Agent des Verfassungsschutzes auf, der es sich leisten kann, Johnny zuhilfe zu kommen: "Du siehst selber, Bruder: Wir brauchen dich gar nicht verhaften zu lassen. Daher war es mir eine Ehre und ein Vergnügen, dir hiermit die Freiheit unserer Stadt wieder zu schenken." (S. 25).

Marcuses, aus seiner Analyse der amerikanischen Gesellschaft abgeleitete These von der völligen Integration der Arbeiterklasse wurde gegen Ende der sechziger Jahre von den deutschen Studenten und also auch von Fried im wesentlichen geteilt. Die potentiell revolutionären Kräfte wurden demgemäß außerhalb dieser gesucht und geortet. Marcuse machte anfänglich das gesellschaftliche Protestpotential in Randgruppen wie den Hippies aus. Allerdings rückte er bald von dieser These ab und verlagerte seine Hoffnungen auf die Studentenbewegung. In einem Interview, das er 1970 Enzensberger für das Kursbuch 22 gab, äußerte er sich folgendermaßen: "Nichts ist unbürgerlicher als die amerikanische Studentenbewegung, während nichts bürgerlicher ist als der amerikanische Arbeiter." Auf Enzensbergers Frage nach den Randgruppen antwortete Marcuse: "Ich glaube, daß es mit der politischen Funktion der Hippies und 'drop-outs' vorbei ist. [...] [Diese Erscheinungen] sind zum Teil sogar reaktionär geworden. Es lag ihnen die Verwechslung von persönlicher mit gesellschaftlicher Befreiung zugrunde. [...] Die politischen Leute lehnen diese Verwechslung ab. Sie sind heute nicht mehr bloße Hippies, ja, sie sind überhaupt keine Hippies mehr."27 Fried scheint diese Einschätzung geteilt zu haben. In seiner Vineta-Bearbeitung verwandelte er die zwei Bettler in eine Gruppe von Gammlern, die bezeichnenderweise von den Arbeitern als "arbeitsscheues Pack" angegriffen werden, an die hingegen Johnny, der eine eindeutige Protesthaltung verkörpert, wie der frühe Marcuse große Hoffnungen knüpft. Doch die Bemerkung des Schreibers/ Verfassungsschützers, die Gammler seien in Jumne "eine feststehende Einrichtung" (S. 27), zeigt an, daß diese Art des Protests von der Gesellschaft bereits integriert wurde. In der Tat zeichnen sich die Gammler durch eine unpolitische, sterile Verweigerungshaltung aus, die sich in Sätzen ausdrückt wie: "Wenn du sie [die Bürger] ändern willst, wirst du gerade so, wie sie sind", "Wir mischen uns in nichts ein, und wir wollen auch nicht, daß man sich bei uns einmischt", oder: "Wir wollen gar nichts weiter tun. Hat doch alles keinen Sinn, was man hier noch tun will. - Wir wollen nur unsere Ruhe haben." (S. 29-30). Auf den Vorwurf Johnnys, sie seien genauso wie die andern und gehörten schon zum Inventar, reagieren nun auch die Gammler aggressiv, und wieder ist es der Schreiber, der Johnny vor seinen Angreifern rettet.

Die restlichen Bilder des Stückes sind, von Anpielungen abgesehen, nicht mehr grundlegend verändert im Vergleich zur Hörspielfassung. Im Epilog allerdings will Johnny keine Dämme und Deiche, sondern "richtige Barrikaden bauen" (S. 50), um die Sturzflut "oder wie man so 'ne Katastrophe nennt" abzuwehren ...

Aufgrund des hinzugefügten 5. Bilds und der Erweiterung der Bettler-Szene ist diese aus zwei Teilen bestehende Fassung noch um ein Beträchtliches länger als die Hörspielfassung und eine Aufführung würde wohl drei bis vier Stunden dauern. Allerdings wurde diese Bearbeitung nie aufgeführt. Wie die Hörspielfassung hat sie keinen Abnehmer gefunden. Angesichts der unglücklichen sprachlichen und stilistischen Veränderungen (die für Johnny in Jumne in gleicher Weise gelten wie für das Hörspiel) und der im Grunde zu oberflächlichen inhaltlichen Bearbeitung ist das wenig verwunderlich. Zwar führt Otto Tausig in seinem Antwortbrief zuerst politische Gründe an, warum das Stück vom Kölner Theater wie vom Neuen Thalia Film abgelehnt wurde, gesteht aber dann auch persönliche Vorbehalte ein: "Entscheidender scheint mir, daß die Grundlage nicht gegeben ist - Die Fabel der Stadt stimmt nicht mit unserer Zeit überein"28 - ein strenges, aber wohl berechtigtes Urteil über Frieds aktualisierende Eingriffe in Soyfers Stück.

Die Vineta-Bearbeitungen stellen bestenfalls eine kleine Fußnote im Werk Erich Frieds dar. Es handelt sich um nicht wirklich geglückte Neben- oder, noch wahrscheinlicher, Brotarbeiten dieses bedeutenden Autors, die es vielleicht allein ihres Bezugs zu Soyfer willen verdient haben, der Vergessenheit entrissen zu werden.

 

ANMERKUNGEN

1 Junges Österreich. Young Austria. The Periodical of the Austrian Youth in England, Nr. 12, 2. November 1939; 3. Jg;, Nr. 4, Mitte Februar 1941 ; Nr. 3, 12. Februar 1944 (Angaben nach Jura Soyfer, Gesamtwerk, hrsg. von H. Jarka, Wien 1980, S. 858-859).

2 H. Steiner, "Mein Freund Erich Fried", in: Mit der Ziehharmonika, 8. Jg., Nr. 2, Juni 1991, S. 1-4, S. 2.

3 H. Jarka, Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit, Wien 1987, S. 500-503.

4 Siehe Programm in H. Arlt, Hrsg., Jura Soyfer und Theater, Frankfurt 1992, S. 54.

5 V. Kaukoreit, "'Vater tot, Mutter im Kerker und ich im nebligen England' oder 'Das ist des Emigranten Lied'. Resümierende Betrachtungen und ausgewählte Nachträge zu den literarischen Anfängen Erich Frieds bis 1945" (Manuskript), S. 9, S. 26, Anm. 35.

6 "Ring-Rund", in: Erich Fried und Österreich. Bausteine zu einer Beziehung, hrsg. v. V. Kaukoreit und H. Lunzer, Wien 1992 (ZIRKULAR-Sondernummer 33), S. 69-74.

7 Abgedruckt im Anhang von V. Kaukoreit, Vom Exil bis zum Protest gegen den Krieg in Vietnam. Frühe Stationen des Lyrikers Erich Fried, Darmstadt1991, S. 465-466.

8 A. Fuchs, "Jura Soyfer", in: Zeitspiegel, Nr. 3, 19. 1. 1946, S. 6; abgedruckt in "Jura Soyfer", November 1989, S. 10.

9 V. Kaukoreit, "'Vater tot, Mutter im Kerker", S. 30, Anm. 66.

10 Werner Rotter hat als erster auf die Vineta-Bearbeitungen Frieds, speziell auf "Johnny in Jumne" hingewiesen in: "Sprache - Fried - Stücke", in: Einblicke - Durchblicke. Fundstücke und Werkstattberichte aus dem Nachlaß von Erich Fried, hrsg. v. V. Kaukoreit, Wien 1993, S. 78-79.

11 Brief Dr. Heinz Zawlawski, Globus Verlag, an Erich Fried, 26. Februar 1968.

12 Bei dieser Bearbeitung reklamiert Fried die Autorenrolle für sich, während er die Rolle Soyfers auf die eines Ideenliferanten reduziert. Auf dem Titelblatt lesen wir: "Das Stück beruht auf einem für die Kleinkunstbühne geschriebenen Einakter von Jura Soyfer (1912-1939), dem einige Ideen, Szenen, Teile von Szenen und Dialogstellen entnommen sind. - E. F."

13 Die Seitenangaben folgen dem Typoskript "Johnny in Vineta", Nachlaß Erich Fried, Gruppe 1 (Bearbeitungen), Karton "Vineta 1968", Österreichisches Literaturarchiv.

14 Soyfers Stück wird zitiert nach J. Soyfer, Szenen und Stücke, 2. bearb. Aufl., hrsg. v. H. Jarka, Wien-Zürich 1993.

15 Man könnte argumentieren, Frieds Erweiterungen seien durch die Rücksicht auf den Radiohörer, der der Bühne und der darauf agierenden Personen entbehrt, motiviert, doch läuft dieses Argument ins Leere, da Fried die Bühnenbearbeitungen, etwa Johnny in Jumne, noch stärker gestreckt hat.

16 R. Spitz, "Die versunkene Stadt. Zur Aufführung im A-B-C", Der Wiener Tag (Sonntag), 10. September 1937.

17 Fried schrieb im bereits zitierten Brief an Tausig: "Da die Kleinkunstbühne mit stärkeren vordergründigen Anspielungen arbeitete, und da die Anspielung Wien - Vineta - in diesem Fall ohnehin für Deutschland nur irreführend wäre, da außerdem die Vineta-Sage unter dem Namen Vineta in Deutschland zu gut bekannt ist, um das Spannungselement zu erhalten, habe ich den Namen Jumne eingesetzt."

18 Fried hatte sich offenbar näher mit der Vineta-Sage beschäftigt und er offenbart sein neuerworbenes Wissen auch dem Zuschauer: "Schreiber: [...] Sag mal, hast du nie in der Schule oder auf einem Schiff das Märchen von der reichen Hafenstadt gehört, die im tiefsten Mittelalter ins Meer versunken ist? Jumne, oder auch Julin genannt und Jomsburg; oder Vineta, die Wendenstadt. - Alles dieselbe Stadt. -" (S. 35).

19 Entwurf eines Prologs, Fried-Karton "Vineta 1968", Österreichisches Literaturarchiv.

20 "Fröhlicher Senator: [...] Und wenn wir unsere Flotte an alle vier Enden der Welt schicken müssen, daß unsere Kriegsknechte mit Feuer und Schwert alles ausrotten, was dort für uns irgendwann einmal eine - nun ja: eine Gefahr werden könnte ... das tun wir, ohne mit der Wimper zu zucken!" (S. 37); "Lilie: [...] Jumne führt keinen Krieg. [...] Johnny: Verzeih. Natürlich nicht. Noch immer meine altmodische Ausdrucksweise! Ich wollte sagen: daß ich zur Befriedungssonderaktion zur Sicherung unseres neuen Kolonialwarenhandels muß, zur Eindämmung des Feindes mit Feuer und Schwert." (S. 39) ; "Soldat: Die drüben natürlich: verkommen und primitiv, dumm und heimtückisch! Sie lauern hinter jedem Strauch! Sogar wenn wir schon ihre Ernte und ihre Kinder verbrannt haben, wissen sie noch immer nicht, daß sie geschlagen sind. So verbohrt sind sie, so fanatisch". In dieser Szene wird der vietnamesische Kriegsschauplatz auch durch "abgeschnittene Asiatenköpfe, am langen schwarzen Haar aufgehängt" angedeutet (S. 40).

21 "Johnny: Aber gestzt den Fall, es geht trotzdem einmal was schief: Eine große Sturzflut, da alle Deiche brechen. - Oder sonst was: Feuer, Wasser, Wasserstoff oder Erdbeben" (S. 49).

22 "Schreiber: [...] Drittens: Wir sind eine Rechtsstadt. Und viertens gibt es für dich mildernde Umstände. [...] Dichterische Freiheit, sozusagen: Einigkeit und Recht und Freiheit! verstanden? Alles an einer Kette! 5 (S. 17)"; "Schreiber: Angst, Johnny! Angst vor dem, was dann käme. Ich bin's nun einmal gewohnt, wie es ist ; verstehst du? Denn das wäre dann keine Veränderung, bei der sich nichts ändert, wie zum Beispiel unsere Wahlen ..." (S. 36).

23 "Schreiber: Alles Nötige wurde bewältigt. Da kannst du beruhigt sein. Die ... na sagen wir, die Flutschäden wurden repariert - alles wieder aufgebaut wie zuvor. - Die Gewerbetreibenden erhielten reichliche Entschädigung, alle unsere Einrichtungen funktionieren wieder ... Was willst du eigentlich? Nur alte Wunden aufreißen?" (S. 36).

24 R. Schindel, "Vineta 1", in: Ein Feuerchen im Hintennach, Frankfurt 1992, S. 53.

25 "Daß ich ansonsten statt der Arbeitslosigkeit die Entfremdung gesetzt habe, [...] wirst Du beim Lesen selbst sehen."

26 E. Fried, "Intellektuelle und Sozialismus. Anmerkungen zu Verhaltensmustern", in: Anfragen und Nachreden. Politische Texte, hrsg. v. V. Kaukoreit, Berlin 1994, 70-112, S. 81, 82-83. Dieser Aufsatz erschien ursprünglich 1968 in dem gleichnamigen Sammelband, der ebenfalls Beiträge von Paul B. Baran und dem Aktivisten der Studentenbewegung Gaston Salvatore enthielt.

27 Abgedruckt in H. Marcuse, "USA: Organisationsfrage und revolutionäres Subjekt", in: Zeit-Messungen, Frankfurt 1975, S. 51-69, S. 63-64.

28 Brief Otto Tausig an Erich Fried, 21. September 1968.

 

Nr. 03/2000

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